Kommentar: Was jetzt, Canelo?

Wenn Helden Rat brauchen, wenden sie sich an mystische Orakel um herauszufinden was die Zukunft für sie bereit hält. Werfen wir einen Blick in die Kristallkugel des Boxens.

Helden fliegen, Helden fallen.

Vergangenen Samstag ist das geschehen, womit die Wenigsten im internationalen Boxen gerechnet haben. Der mexikanische Superstar und Pound for Pound König Canelo Alvarez wurde von Dmitry Bivol besiegt. Mehr noch, er wurde deutlich besiegt.

Canelo Alvarez chancenlos gegen Dmitry Bivol.

Canelo galt als die unangefochtene Nummer 1 im Tanz mit den Lederhandschuhen durchs Seilquadrat, doch nun konnte er sich nicht im Light-Heavyweight gegen einen dynamischen Champion durchsetzen. Wie konnte das passieren? Saul „Canelo“ Alvarez, der die Champions im Super-Mittelgewicht aussehen lassen hat wie kleine Jungs die vor kurzer Zeit erst das Boxen angefangen haben. Der Sergej Kovalev bereits in der selben Gewichtsklasse, in der er jetzt verloren hat, zerschmettert hat. Canelos‘ einzige Niederlage jemals kam lediglich in einem jungen Alter und gefühlten tausenden Gewichtsklassen unten drunter, gegen den sich selbst als „Besten jemals“ (TBE, „The best ever“) bezeichnenden Floyd „Money“ Mayweather.

Wie viele Biopics (reflektierende Beiträge über seine Karriere) hat uns DAZN in Zwischezeit über den unbesiegbaren Mexikaner gezeigt? Bivol galt nicht einmal als einer der stärksten Champions seiner eigenen Gewichtsklasse und doch war er der Paris, der den großen Achilles zu Fall gebracht hat. Bevor man beginnt, einen griechischen Heldenepos anzufangen, kann man die Sache eigentlich ganz einfach beantworten. Helden fallen. Auch Ikarus ist zu hoch zur Sonne geflogen.

Bivol war der klar bessere Mann am Samstagabend des Cinco de Mayo (mexikanisches Feiertags‘ Wochenende an dem Canelo traditionsgemäß immer boxt) Wochenend-Showdowns in Las Vegas. Wer Bivols Kämpfe zuvor gesehen hat, konnte klar erkennen, dass der WBA-Champion des Light-Heavyweights zwei Stärken hat, die Canelo vor Probleme stellen können. Ein Bilderbuch Jab und eine unglaublich gute Rückwärtsbewegung aus einer sehr weit gespreizten Beinstellung. Bivol ist unglaublich lang und hat genug Power, um einen „mit dem Kopf durch die Wand“-Vormarsch zu parieren, immerhin reden wir vom Halbschwergewicht.

Canelo vs Bivol

Doch der Verlauf des Kampfes wurde an anderen Stellen schon ausführlich und bis ins Detail analysiert, weswegen wir uns in diesem Beitrag eher der Frage zuwenden wollen: What’s next for Canelo? Was kommt also als Nächstes? Ist der Champion zu hoch geklettert und im Umkehrschluss nun zu tief gefallen, als dass ein erneuter Aufstieg in luftige Höhen unmöglich erscheint? Welche Aufgaben gäbe es für einen gefallenen Helden noch zu bewältigen, wenn alle Hydras und Minotauren bereits gezähmt wurden? In der Tat keine einfache Entscheidung die Canelos‘ Team und Eddy Reynoso und Co. zu treffen hat.

Aller guten Dinge sind 3.

Gennady „GGG“ Golovkin und Saul „Canelo“ Alvarez II

Das Golovkin Rematch. Ufff…gehen wir an einen dunklen, dunklen Ort in die Unterwelt der Herzen der Golovkin Fans. Sicher haben wir auch hier schon genug Verschwörungstheorien und Einschätzung von Couch- bis Profi-Experten gehört, wer welches Duell eigentlich gewonnen hat. Faktisch steht da ein Draw und ein Sieg für Canelo. GGG ist in Zwischenzeit wieder Doppelweltmeister geworden, nachdem er dem japanischen Champion der WBA Ryota Murata seinen Titel abgenommen hat. Also zurück ins Mittelgewicht? Ein großer Sprung, selbst bei einem Catchweight ist es schwer vorstellbar, dass Golovkin sich darauf einlassen würde, seinem jüngeren Rivalen auch nur einen Gramm schenken würde.

Golovkin sollte sich auf das Duell mit Canelo nicht mehr einlassen, da es eine viel zu große Gefahr für ihn und seine Gesundheit birgt – so sprachen viele Stimmen vor dem Showdown mit Murata. Nachdem GGG den Ringrost abgeschüttelt hatte, legt er ab da wieder deutlich los, so dass der ein oder andere Fan ins Schwärmen geraten konnte, ihr Held sei wieder der Alte. Leider ist Golovkin in einem Duell mit Canelo immer noch „der Alte“ und ein Vergleich über zwei Gewichtsklassen von den besiegten Champions erscheint etwas fragwürdig.

Was aber, wenn Golovkin seinen zweiten Frühling gefunden hat, Canelo unter dem Gewichtsverlust leidet und den dritten Kampf verlieren sollte? Ein absolutes Horrorszenario. Legende Roy Jones Jr. führte bereits in der Vergangenheit in einer Sonderauflage des britischen Boxformats „The Gloves Are Off“ an, wie ihn der Rückgang vom Schwergewicht ins Halbschwergewicht damals körperlich zermürbte. Jones‘ nennt das als einer der Hauptgründe, warum er in den letzten Kämpfen seiner Karriere nicht mehr auf dem gewohnten Niveau mithalten konnte. Aber ebenso nennt er das Verlieren seiner Ziele als einen Hauptgrund. Seine erste Niederlage kam durch eine Disqualifikation. Der Traum seine Karriere unbesiegt zu beenden war dahin, weswegen er das Vorhaben „Heavyweight Champ und zurück“ in Angriff nahm.

Danach war es aber auch wieder vorbei mit den ruhmreichen Zeiten. Vielleicht geht es Canelo ähnlich. Er wollte unumstrittener Weltmeister einer Gewichtsklasse der Vier-Gürtel-Ära werden, der erste Mexikaner dem das gelang. Außerdem wurde er damit auch der erste Undisputed-Champ des Supermittelgewichts überhaupt. Dazu kommen all die anderen vielen Titel, in so vielen Gewichtsklassen. Ist da irgendwie ein Taubheitsgefühl im Erfolg eingetreten? Ist der dritte Ausritt mit Gennadiy Golovkin jetzt genau das, was er braucht? Unglaublich viel zu verlieren, wenig zu gewinnen – zumal die ganzen letzten Monate/Jahre unter der Narrative „for Legacy“ liefen. Also wäre das ein drastischer Umschwung von „es geht darum Geschichte zu schreiben und noch einen Oben drauf zu legen“ auf „es gibt noch eine persönliche Sache die noch nicht geklärt ist“. Kein guter Deal für den gefallenen P4P-König.

Rückkehr ins Super-Mittelgewicht?

Genau wie der antike Held Odysseus, war nach seiner Odyssee (welche die eigentliche Heimkehr sein sollte) Zeit für eine Rückkehr nach Hause. Leider fand Odysseus in der Sage nur den Zerfall seines einst glorreichen Königreichs vor. Canelo hat alle Champion entthront, wen könnte er also herausfordern, der seiner als Gegner würdig ist?

Wie wäre es mit David Benavidez? Wenn Golovkin kein gefährlicher Gegner sein sollte, dann ist es David Benavidez auf jeden Fall. Callum Smith hat seine Lager abgebrochen und ist ebenfalls ins Light-Heavyweight gezogen, Billy Joe Saunders ist in der Versenkung verschwunden (Chris Eubank Jr. sucht ihn angeblich vergebens) und wer war nochmal der andere Champion…ah, Caleb Plant, Entschuldigung vielmals. Alle der genannten waren keine wirklich großen Herausforderungen für Canel.

Benavidez könnte da allerdings eine ganz andere Sache sein. Der junge Mexican American wird aktuell von der WBC als Nummer Eins gewertet und ist ein elektrisierender und wahnsinnig talentierter Boxer. Dadurch, dass ihm aber der Ruf und das Resümee für einen Helden wie Canelo fehlt, wird es recht einfach bleiben, ihn abzuschreiben und gar nicht erst ins Gespräch zu bringen. Sollte Canelo jedoch in die Klasse des Supermittelgewichts zurückkehren, sollte Benavidez der erste Name auf der Liste sein.

Angeblich steht Demetrius Andrade ebenfalls seinem Debut im Super-Mittelgewicht bevor (weil angeblich niemand gegen ihn kämpfen möchte im Mittelgewicht), welcher bereits mit Canelo aneinander geraten ist, oder es zumindest versucht hat. Eigentlich hat er sich nur wichtig gemacht und wurde schnell abgewimmelt. Sportlich wäre das wahrscheinlich keine große Herausforderung für Canelo, jedoch wäre der Unterhaltungswert sicher garantiert. Ob sich die ganze „Legacy“-Geschichte mit Andrade als nächsten Gegner aber noch genau so gut erzählen lässt, wie mit einem Match-Up gegen Benavidez oder einem weiteren Gegner aus dem Light-Heavyweight, ist ebenfalls mehr als fraglich.

Der zweite Anlauf

Am sinnvollsten für die Erzählung des großen mexikanischen Heldens‘, der in der Konversation über den „GOAT“ (den größten aller Zeiten) seinen festen Platz einnehmen soll, wäre es, die Gewichtsklasse zu halten. Er muss sie ja nicht gleich erobern, zumal die Aussichten gegen einen Artur Beterbiev wahrscheinlich nicht besser stehen, als gegen einen Dmitry Bivol. Mit einem Joe Smith Jr. könnte es jedoch etwas anders aussehen. Joe Smith, aktuell Champion der WBO, steht allerdings auf Kollisionskurs mit Artur Beterbiev. Verliert Smith dieses Duell, wird er dennoch eine realistische Option bleiben, sollte Beterbiev eine Vereinigung gegen Bivol anstreben.

Ein Kampf und Sieg gegen Smith als Nicht-Champion, würde Canelos‘ Resümee nicht schaden, zumal er je nach Art des Sieges, seine Argumente, einen Champion herauszufordern, stärken würde. Smith als Champion wäre natürlich ein gefundenes Fressen und ein Fest für die amerikanische Sport-Unterhaltungsindustrie. In dieser Option finden sich jedoch labyrinthartige „Was wäre wenn“-Szenarien wieder, die in Heldensagen ja durchaus auch ihren Platz einnehmen, aber es geht doch viel einfacher. Ein Rematch mit Bivol.

Kryptonit oder Karriere-Kür?

Hat Canelo seinen Meister gefunden oder kann er Bivol schlagen? Das sollte die einzige Frage sein, die eine Antwort bedarf. Canelo hat bis zum letzten Samstag nur eine Niederlage gehabt, nach der er keinen einzigen Kampf verloren hat. Die Niederlage gegen Floyd Mayweather war das Beste, was Saul Alvarez damals passieren konnte. Er hat sich seitdem zu einem vollkommenen Boxer entwickelt, wie man ihn lange nicht mehr gesehen hat. Das zeigt klar und deutlich, dass er in der Lage ist, zu adaptieren. Bivol hat den Kampf zurecht gewonnen, oder besser gesagt: Canelo hat ihn zurecht verloren.

Sein „Nach vorne marschieren, Ring abschneiden, kaum Jabs, einkesseln und ein Haufen Haken drauf“-Stil, der ihm die letzten Jahre jeden Kampf zu einem Sieg gemacht hat, hat gegen Bivol nicht funktioniert. Das wird er auch nicht im Rückkampf. Bivol ist zu diszipliniert, zu gut in der Rückwärtsbewegung und kann ihn auf Distanz halten. Aber Canelo kann hinter den Jab kommen, seinen Gegner drehen und ihm Fallen stellen. Canelo müsste in der Lage sein, Bivol zu schlagen, rein theoretisch. Genau mit diesem Sieg im Rematch, würde Canelo sein Anrecht auf eine Spitzenposition in der „Greatest ever“-Diskussion manifestieren. Zugegebenermaßen ließ Bivol allerdings auch den Anschein aufkommen, dass Canelo ihn nicht besiegen kann.

Es lassen sich mal wieder viele Argumente für beide Seiten machen, mehr wissen wir am Ende nur, wenn wir den zweiten Durchlauf gesehen haben. Kann Canelo sich nochmal neu erfinden und adaptieren? Kriegt Reynoso ihn so eingestellt, dass er Bivol bezwingt? Nicht im Supermittelgewicht, sondern im Halbschwergewicht. Auch das Gerede von Ausflügen ins Cruisergewicht und ein Catch-Weight gegen Schwergewichtskönig Oleksandr Usyk sollten schnell abgetan werden. Selbst wenn Canelo diesen Kampf erneut verliert, aber eine tolle Leistung zeigt, kann er danach ohne jede Reue machen, was er will. Egal gegen wen, egal in welcher Gewichtsklasse.

Epilog

Ein Held muss zeigen, aus welchem Holz er geschnitzt ist. Halten wir es ganz mit der Aussage von Danny Trejo in der mexikanischen Bad-Boy-Helden Rolle als ‚Machete‘: „Are you a MexiCAN? Or are you a MexiCANNOT?“

Schwer wiegt die Krone, doch wer sie sich selbst aufsetzt, muss mit den Konsequenzen leben. Helden durchstehen die dunkle Zeit, kehren zurück, bescheren ein glückliches Ende – oder sie fallen. Doch wenn sie fallen, fallen sie hart.

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