Gehasst und vergöttert: Der polarisierende Superstar Canelo Alvarez

Foto: Amanda Westcott / DAZN USA

Kaum einer polarisiert bei den Boxfans so sehr wie der mexikanische Superstar Saul „Canelo“ Alvarez. Während einige Fans ihn für seine boxerischen Errungenschaften lieben, wird er von seinen schärfsten Kritikern als ein privilegierter Blender bezeichnet. Doch inwiefern sind überschwängliches Lob oder harsche Kritik überhaupt gerechtfertigt?

Canelo’s Polarisierung bei den Boxfans

In dem auf Papier bisher größten Boxkampf des Jahres 2019, wird am 4. Mai in der T-Mobile Arena in Las Vegas (USA) der mexikanische Boxstar Saul „Canelo“ Alvarez (51-1-2, 35 KO-Siege; WBC- & WBA Titelträger) auf den starken „Miracle Man“ Daniel Jacobs (35-2-0, 29 KO-Siege; IBF-Titelträger) treffen.

Foto: Amanda Westcott / DAZN USA

Während Canelo von vielen Fans geliebt und nahezu vergöttert wird, ist er für viele andere ein beschützter und privilegierter Blender, an dem sich viele Missstände des heutigen Boxsports manifestieren. Dieser Artikel setzt sich zum Ziel, ebendiese Polarisierung genauer unter die Lupe zu nehmen und zu klären, welcher Anteil Kritik gerechtfertigt ist und aufgrund von welchen Argumenten Alvarez dennoch gut für den Boxsport ist.

Ein Boxer, der die Herausforderungen sucht

Wenn es um das Résumé geht, macht kaum ein aktiver Boxer dem erst 28-Jahre jungen Canelo Alvarez etwas vor. So besiegte Alvarez unter anderem den ungeschlagenen Austin Trout und den unangenehmen Stilisten Erislandy Lara, als zu den jeweiligen Zeitpunkten der Kämpfe beide zu den stärksten und schwierigsten Herausforderungen im Superweltergewicht zählten. Daneben hat Canelo in seiner Vita spektakuläre KO-Siege über den Puncher James Kirkland oder über den populären Amir Khan. Ebenfalls gewann er eine klare Punktentscheidung über den zukünftigen „Hall of Famer“ Miguel Cotto für den „Lineal“-Mittelgewichtstitel.

Nachdem sich der Kampf um über ein Jahr verspätete, boxte Canelo zur Krönung seiner bisherigen Karriere gleich zweimal gegen den bis dahin unbesiegten Mittelgewichtskönig Gennady Golovkin und holte sich nach einem Unentschieden im Rückkampf das knappe Urteil. Lediglich dem ungeschlagenen „All-Time-Great“ Floyd Mayweather Jr. musste sich ein noch 23-Jahre junger Canelo geschlagen geben.

Auch Danny Jacobs reiht sich in die Reihe von großen Herausforderungen in Alvarez‘ Résumé. Der schlagstarke IBF-Titelträger wird in den meisten unabhängigen Mittelgewichtsranglisten als der dritte Mann hinter Canelo und Golovkin gereiht. Spätestens heute sollte jedem Boxfan klar geworden sein, dass der rothaarige Boxstar keiner Herausforderung aus dem Weg geht und in seiner Karriere großes erreichen will.

„Canelo weight“

Bei allem Lob zum Canelo – Jacobs Kampf, gab es dennoch Anlass zur Kritik. So wurde vor allem angeprangert, dass neben dem offiziellen Wiegen (reguläres Mittelgewichtslimit von 160 lbs/ ca. 72.6 kg) ein weiteres Wiegen auf den Morgen des Kampftages vertraglich festgesetzt wurde. Bei diesem sogenannten „second day Weigh-in“ dürfen Canelo und Jacobs das Limit von 170 lbs (ca. 77.1 kg) nicht überschreiten. Die Praxis des „second day Weigh-in“ ist bei IBF-Kämpfen normalerweise Pflicht, wurde aber für Vereinigungskämpfe abgeschafft. Canelo bestand jedoch darauf, das „second day Weigh-in“ auch für den Vereinigungskampf zwischen ihm und Jacobs vertraglich festzusetzen. Der Benachteiligte dieser Regelung ist natürlich der physisch überlegene Jacobs, der nach dem Wiegen jegliche Minute zur Rehydration gut gebrauchen kann.

Sich beim Wiegen kleine Vorteile zu verschaffen, ist bei Canelo nicht die Ausnahme. Als kräftig gebauter Boxer musste Alvarez in seinen Tagen als Superweltergewichtler viel “abkochen”. Canelo nahm sich deshalb schon mehrere Male das Recht hinaus, dem Gegner ein “catchweight” (d. h. ein Gewichtslimit zwischen den regulären Gewichtsklassen) aufzuzwingen. Anstatt im regulären Superweltergewichtslimit von 154 lbs (ca. 69,9 kg) boxte er deshalb mehrere Male im vereinbarten Limit von 155 lbs (ca. 70,3 kg). Kein Wunder wurde auf den sozialen Medien mokiert, dass Alvarez im „Canelo weight“ kämpft.

Auch gegen den physisch überlegenen Julio Cesar Chavez Jr. liess er die Gelegenheit nicht verstreichen, die Rahmenbedingungen zu seinen Gunsten zu gestalten. So musste der Supermittelgewichtler Chavez Jr. (selbst kein Kind von Traurigkeit, wenn es um das Aufzwingen von „catchweights“ geht) beim offiziellen Wiegen das „catchweight“ von 164,5 lbs (ca. 74,6 kg) bringen, um gegen Alvarez boxen zu dürfen.

Schlussendlich wird niemand gezwungen, bei solchen Gewichtsspielereien mitzumachen. Doch wer nun mal das Geld in die Kassen bringt, hat im Boxsport die Macht. Und wenn man auf die Bedingungen des Geldbringers nicht eingeht, kriegt man den großen Kampf nicht. Das ist die harte Realität im Boxgeschäft.

Die Gunst der Punktrichter

Bereits jetzt wird heiss diskutiert, ob Jacobs überhaupt eine Chance hat gegen Canelo ein Punkturteil zu gewinnen. Und das kommt nicht von ungefähr.

Saul Alvarez kriegte in der Vergangenheit schon verschiedene Punktkarten, die bei allen neutralen Betrachtern für Kopfschütteln sorgten. Allen voran stehen die abstrusen Punktkarten von Adalaide Byrd (118-110 gegen Golovkin) und CJ Ross (114-114 gegen Mayweather). Diese Punktkarten lagen so weit daneben, dass sie in den Boxkreisen der sozialen Medien zu „Memes“ mutierten. Weiter abwegige Urteile zu Canelo‘s Gunsten sind beispielsweise die 119-109 gegen Cotto, die 117-111 gegen Lara oder die 118-109 gegen Trout. Offensichtlich mögen die Punktrichter Canelo.

Einige Kritiker sind sogar der Meinung, er hätte die Urteile gegen Austin Trout, Erislandy Lara und Gennady Golovkin gar nicht verdient gehabt. Während der Autor dieses Artikels Canelo gegen Trout als auch gegen Lara knapp vorne sah, wurden die Kämpfe gegen Golovkin mit leichten Vorteilen für den Boxer aus Kasachstan gepunktet. Doch gerade beim letzten Aufeinandertreffen der beiden Eliteboxern waren die einzelnen Runden hart umkämpft und eng, so dass ein Sieg für Canelo absolut zu vertreten war.

Unterm Strich hat Canelo (im Gegensatz zu vielen anderen Boxern) noch kein Sieg in seinem Résumé, der gänzlich unverdient war. Doch beim großen Zuschauermagneten und Geldbringer Canelo wird stets die Wahrscheinlichkeit sehr hoch sein, dass eine enge Runde für ihn gewertet wird.

Der Dopingskandal

2018 war für Canelo ein ambivalentes Jahr. Im September besiegte er im bisher grössten Erfolg seiner Karriere den unbesiegten Golovkin. Nicht einmal drei Monate später gab Canelo sein New York Debut und besiegte im Madison Square Garden vor frenetischen Zuschauern Rocky Fielding in der 3. Runde durch technischen KO.

Doch so glamourös sein Jahr endete, so schwierig starte es. Als der ersehnte Rückkampf gegen Golovkin nach langen Verhandlungen endlich für den Mai 2018 unterschrieben war, wurde Canelo positiv auf die verbotene Substanz Clenbuterol getestet. Während für viele Boxfans eindeutig war, dass ein Betrüger entlarvt wurde, behielt seine Anhängerschaft den Glauben, der positive Test sei auf kontaminiertes Rindfleisch (ein gängiges Problem in Mexiko) zurückzuführen. Eine Haarprobe sollte Gewissheit zur Schuldfrage bringen. Sie war negativ. Doch inwiefern der nachträgliche Haartest in Canelo‘s Fall aussagekräftig ist, darüber streiten sich auch die Experten.

Schlussendlich wurde Canelo von der NSAC (Nevada State Athletic Commission) mit einer sechsmonatigen Sperre bestraft. Natürlich schieden sich ebenfalls bei diesem Urteil die Geister. Während einige eine Strafe an sich als ungerecht empfanden, war das Urteil für andere viel zu mild und ein weiterer Beweis dafür, dass Geld den Sport regiert.

Immerhin unterschrieb Canelo im Mai 2019 bei der VADA (Voluntary Anti Doping Agency) für das „year-round testing“. Dies bedeutet, Canelo kann zufälligerweise an allen 365 Tagen im Jahr auf Doping getestet werden. Wie zynisch man dem Boxsport oder Canelo gegenüber auch eingestellt ist, muss man doch anerkennen, dass Alvarez nach dem Dopingskandal viel tat um die Zweifel an seiner Sauberkeit aus dem Weg zu räumen.

Hinweis: Das VADA „year-round testing“ ist nicht dasselbe, wie das „Clean Boxing Program“ der VADA, welches in Kollaboration mit der WBC läuft. Die Tests, welche die VADA für WBC gerankte Boxer durchführt, finden erst statt, wenn ein Kampf erstmals offiziell ist. In Canelo‘s Fall können die Tests auch abseits der üblichen Wettkampfvorbereitung stattfinden.

Oscar de la Hoya und Saul „Canelo“ Alvarez
Oscar de la Hoya und Saul „Canelo“ Alvarez

In einem andauernden Entwicklungsprozess

In Bezug auf sein boxerisches Können hat Canelo für viele Boxfans lange als ein Blender gegolten, der nur gegen herausgepickte Gegnerschaft oder mit wohlgesonnten Punktrichtern bestehen kann. Doch über die Jahre hinweg, bestrafte Canelo seine Kritiker Lügen.

Nachdem Canelo von Floyd Mayweather Jr. (2013) deklassiert wurde, war es die populäre Meinung, Canelo sei auf den Beinen viel zu lahm um einen schnellen und „slicken“ Gegner zu stellen. Jedoch bereits ein Jahr später, bewies er gegen Erislandy Lara, dass er sich auf des Kubaners ähnlich unangenehmen Stil einstellen kann.

Auch hiess es, Canelo würde aufgrund seiner schlechten Ausdauer mit  drückenden, marschierenden Gegner Probleme kriegen. Doch Kämpfe wie die gegen Alfredo Angulo und James Kirkland machten klar, dass Canelo sich aggressiv-boxenden Gegner nicht nur mit einer starken Defensive aus Meidbewegungen und Paraden entziehen kann, sondern aber diese Art von Gegnern mit umso brutaleren Kontern bestraft.

Nicht wenige waren der Meinung, dass spätestens der Eliteboxer und harte Puncher Golovkin des mexikanischen Stars Schwächen bitter aufdecken würde. Doch selbst diejenigen, die Golovkin im ersten Kampf vorne hatten, mussten die defensive Meisterleistung von Canelo anerkennen. Er bewegte defensiv sich so geschmeidig und technisch sauber, dass sein Boxstil mit dem von James Toney verglichen wurde. Im Rückkampf war sogar Canelo derjenige, der den gefürchteten Puncher zurück drängte und mit harten Kombinationen immer wieder durchrüttelte.

Der natürliche Konterboxer Canelo zeigte von Kampf zu Kampf immer wieder neue Facetten. Seine große boxerische Entwicklung ist nicht von der Hand zu weisen. So darf man auch gespannt sein, mit welchen neuen Tricks er sich gegen den langen und schnellen Jacobs präsentieren wird.

Saul "Canelo" Alvarez
Saul Canelo Alvarez

Fazit

Wie so oft im Leben, gibt es nicht nur schwarz und weiss, sondern viele Grautöne. Canelo ist sich zweifellos seiner Machtposition im Boxsport bewusst und weiss auch aus dieser seine Vorteile zu ziehen. Das ist im Boxsport nichts Neues. Ob Sugar Ray Leonard, Wladimir Klitschko, Floyd Mayweather Jr. oder Julio Cesar Chavez Sr., um nur einige wenige Beispiele von Boxern zu nennen, die ihre Popularität nutzten um die Rahmenbedingungen des Kampfes für sich ideal zu gestalten. Wie die genannten Größen, hat auch Canelo die Ambitionen in die Boxgeschichte einzugehen. Anstatt sich auf seinen Privilegien auszuruhen, sucht er aktiv die Herausforderungen. Ob man ihn mag oder nicht: Große Kämpfe sind mit Canelo garantiert!

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