Kommentar: Fury macht den Deckel nicht drauf

Tyson Fury locker, lächelnd und tanzend wie selten bei einem Wiegen vor einem großen Fight.

Das lang erwartete Mega-Kampf Wochenende ist vorbei. „Gypsy King“ Tyson Fury krönte den finalen Akt seiner Karriere mit einem traumhaften Aufwärtshaken und stieg auf seidenen Schwingen gen Himmelreich empor.

Nun ja, immerhin sollte man den Ausgang eines Kampfes von dem Ausmaß (vor allem finanziell betrachtet), mindestens genauso dick aufblasen wie die Promo im Vorlauf. Das haben auch genug Stimmen in der laufenden Woche getan, doch schauen wir etwas genauer hin, was für Folgen der Ausgang des Wembley Wochenendes wirklich auf die Schwergewichtsgeschichte hat.

Vergangenes Wochenende besiegte Tyson Fury einen ziemlich lahmen Dillian Whyte innerhalb 6 Runden in einem randvollen Wembley Stadion in London. Das bringt die ganze Sache erst Mal auf den Punkt. Doch die Diskussionen nehmen mal wieder fahrt auf: Was passiert jetzt mit Fury? Hört er wirklich auf? Ist er der Größte aller Zeiten? War Whyte ungerecht behandelt worden mit dem Abbruch des Kampfes? Gehen wir der Sache auf den Grund.

Tyson Fury (links) ließ Dillian Whyte (rechts) nicht den geringsten Hauch einer Chance!

Kurz Vorweg: Whyte war eine Enttäuschung. Wer solange auf seinen Title-Shot wartet, und in einer solchen Form in den Ring kommt, der brauch sich über eine Niederlage nicht wundern. In der ersten Runde war die Überraschung groß als Whyte in Southpaw-Auslage aus der Ecke kam, Fury war augenscheinlich verwirrt und fand seinen Rhythmus überhaupt nicht. Er kam gar nicht rein, wusste gar nicht richtig wo er anfangen soll. Das war der Moment in dem man sich denken konnte, „Hey richtig gute Idee Dillian!“, aber nein.

In der zweiten Runde wirft Fury den Ball genau so zurück wie er ihn zugespielt bekommen hat und tanzt selbst mit dem rechten Fuß vorne durchs Seilquadrat. Was machst du jetzt Dillian? Genau. Gar nichts. Kaum hatten sich die Mätzchen zu Beginn der dritten Runde gelegt, geht Whyte auch schon hart die Pumpe. Offener Mund, keuchend nach Luft, flachfüßig durch den Ring stampfend. Im Ernst? Na gut, vielleicht wusste er ja nicht, dass sein Gegner einer der beweglichsten Schwergewichtler der letzten 20 Jahre ist.

Vielleicht hat er auch nicht mitbekommen, dass nur 94.000 Menschen im Stadion allein zuschauen und er hat sich zu schnell etwas ausgepowert? Oder ist es womöglich an ihm vorbei gegangen, dass der Kampf für über 40 Millionen versteigert wurde und man ihn deshalb zumindest als „pretty big Deal“ wahrnehmen sollte und sich vielleicht so darauf vorbereitet als…hm…als…käme so eine Chance nie wieder in der eigenen Karriere? Ok, vielleicht wartet man auch einfach nur wieder über 1000 Tage darauf und alles wird gut, was weiß ich schon von dem ganzen Zirkus, ganz zu schweigen von dem, was in Dillian Whytes‘ Kopf herum schwirrt. Vermutlich war es nicht allzu viel, ansonsten hätte er bestimmt auch den Upper-Cut besser weggesteckt.

Schon wieder?! Dillian und der Aufwärtshaken

Ich weiß nicht wie oft ich mir die Zeitlupe jetzt schon angeschaut habe, aber eigentlich hätte mir ein einziges Mal gereicht. Whyte starrt Fury an, schiebt ihn mit seinem rechten Arm in den Rückwärtsgang, wodurch er automatisch ein riesiges Fenster für den Aufwärtshaken lässt und dann senkt er auch noch erwartungsvoll den Kopf nach unten, bevor er das Teil fängt. Irgendwie lässt einen das sprachlos, weil man einfach viel zu viel darüber sagen könnte. Man weiß jedoch, dass man dazu nichts sagen sollen müsste. Der kleine Schuck bringt Whyte zu Fall, weil er nach dem Haken so oder so keine Beine mehr hatte.

Whyte hätte den Fight auch ohne Haken klar verloren und nicht den Hauch einer Chance. Fury macht seine beste „Lomachenko/Roy Jones“ – Impersonation und fordert den Referee dazu auf, den Kampf zu stoppen. Hurra, hurra, die Rückkehr des Königs, schön und gut. Doch kaum geht es in die Presseberichtserstattung, redet die Welt von einem der genialsten Aufwärtshaken und K.O.’s der letzten Jahre. In der Ferne hört man wie Alexander Povetkin die Kinnlade herunter fällt. In Povetkins‘ K.O. des vorherigen Jahres, schnallt Whytes‘ Kopf richtig nach hinten bevor er komplett zu Boden geht. Hinter dem Teil war richtig viel Power. Das nenn ich einen Knock-Out. Bevor Fury-Fans nach meiner Ächtung trachten, bevor ich Fury noch weiter den Hermelin-Mantel beschmutze, lasst uns zwei Parameter der bevorstehenden Auswertung des Beitrags erörtern.

Einen vor und Einen zurück & die amerikanische Promotion

Da es in diesem Beitrag um die Einordnung des Kampfes vom vergangenen Samstag in die aktuelle und vergangenen Heavyweight-Geschichte geht, erweist es sich als nützlich, einen kleinen Schritt zurück zu gehen, als auch ein bisschen nach vorne zu spinnen.

Vor dem Kampf mit Whyte beendete Fury seine Trilogie mit Deontay Wilder ein zweites Mal erfolgreich. Wilder ist ein unglaublich dankbarer Vergleichsgegner, weil er Fury unglaublich gut aussehen lässt. „The hardest hitting Heavyweight of all Time“, so wird und wurde uns Wilder im Aufbau seiner Kämpfe der letzten Jahre vermarktet, was uns auch schon gleich zu dem zweiten Kriterium der Analyse bringt: die (amerikanische) Promotion.

Im amerikanischen Profisport ist es eine eigene Disziplin, einen GOAT (Greatest Of All Time [den Größten aller Zeiten]) zu küren, doch viel zu selten betrachtet man diese Praxis differenziert genug. So gut wie Alles wird in Amerika dem Drang nach „Greatness“ verschrieben. Marketing ist DAS Mittel zum Zweck und die Brechstange für erfolgreichen Verkauf von jedwedem Firlefanz.

Foto: Frank Micelotta/Fox Sports

Wer das nicht glaubt, muss sich nur ein PBC/Toprank oder sonstiges amerikanisches Sportpromotion-Video auf YouTube anschauen und man wird keine 2 Minuten warten müssen, bis das Wort „Greatness“ das erste Mal fällt. Versprochen. (Das funktioniert übrigens auch für einen Großteil von Autowerbungen amerikanischer Marken.)

Tom Brady im Football, Michael Jordan im Basketball (oder doch LeBron James?), Tiger Woods im Golf, Ali im Boxen, sogar Trump betitelte sich oft genug selbst als „Greatest“ im Präsident-Spielen.

Wieso machen die das? Weil’s funktioniert. Als studierter Popular-Kulturwissenschaftler kann ich euch gar nicht sagen, wie viele Theorien und Erklärungen es dafür gibt, hier jedoch in sehr vereinfachter Form ausgedrückt. Jeder der irgendwann mal irgendetwas gemacht hat, hat sich bestimmt noch nie über Erfolg beschwert. Es ist gut erfolgreich zu sein und am besten ist es, am erfolgreichsten zu sein. Besser als die Konkurrenz. Am besten ist es der Beste zu sein und noch besser ist es wenn es jeder weiß. Verständlich oder?

Muhammed Ali hat sich nicht umsonst vor die laufende Kamera gesetzt und gesagt „I am the Greatest!“. Identifikation und Bekennungskultur zur Zeit eines so markanten, gesellschaftlichen Umbruchs für einen erfolgreichen Amerikaner, aus der ungerecht behandelten schwarzen Minderheit = ein absoluter Volltreffer. Der zweite Volltreffer war, dass zu jener Zeit das Fernsehen und die Populär-Kultur im absoluten Hochstand waren. Es war quasi ein Kraftakt Ali NICHT als „The Greatest“ anzuerkennen. Er gewann die Titel, womit er die Beweise hatte und hatte die Narrative selbst in die Köpfe der Menschen gesetzt.

Auch heute wird es schwer, diesen Mythos zu widerlegen, da ein Mythos sich nicht ohne Weiteres rückgängig machen lässt, zumal die Parameter auf denen er sich begründet heute gar nicht mehr ausschlaggebend sind – darüber hab ich eine ganze Bachelor-Arbeit verfasst, aber das spare ich euch an dieser Stelle. Aber genau das ist der Grund, warum im Basketball auf einmal ein LeBron James als neuer „Größter aller Zeiten“ proklamiert werden kann und im Boxen heute ein Tyson Fury. „Hätte Ali damals Social Media gehabt dann…“, „Wäre Fury zur Zeit von Ali im Ring gewesen dann…“. Hätte, hätte, Fahrradständer. Ihr wisst ja wie das läuft.

Zurück zu Fury. Wilder galt auf einmal als das gefährlichste Schwergewicht auf dem Markt, wobei es einige Jahre zuvor noch Joshua war. Sicher wäre der britische Showdown ein finanzieller Riesenerfolg gewesen, doch erinnern wir uns, dass AJ für Viele vor der Ruiz-Niederlage als unbesiegbar galt. Jetzt also Wilder. Aber wen hat Wilder denn groß umgehauen? Nichts von Rang und Namen wirklich, vielleicht einen alten Ortiz – der ihn fast umgehauen hätte. Wilder ist kein guter Boxer. Und außerdem nicht gut im taktischen Kampf, genau wie Dillian Whyte, der zu allem Überfluss auch noch chinny ist! Man muss jedoch ganz klar sagen, dass die Trilogie top war. Vor allem natürlich der dritte Kampf. Jeder große Champion seiner Zeit, sollte mit dem gefährlichsten Puncher seiner Zeit den Ring geteilt haben. Aber jeder große Champion sollte auch mit ANDEREN Champions im Ring gestanden haben (wenn er nicht selbst Undisputed ist) – und das hat Fury nicht. Der Kampf gegen AJ war DER Kampf, nach dem alle geschrien haben und meiner Meinung ist AJ auch jetzt noch ein besserer Gegner als Whyte (bei Meilen) oder Wilder (wenn auch nur knapp).

Kommen wir jedoch nun zum „Eins vor und Eins zurück“-Vergleich

Also Eins zurück: Fury enttrohnt Klitschko. Das war ein sehr dankbarer Sieg, da Klitschko zum einen echt auf der Schattenseite seine Karriere war und zum anderen gleich eine Vielzahl der Titel hatte. Besiege einen alten Klitschko, bekomme viele Titel. Guter Deal. Dennoch hat er einen lang regierenden Champion besiegt, doch er hätte danach vereinigen müssen (!), für den Aufstieg in den Olymp!

Fury entthront Wilder. Ein besseres Comeback kann man kaum machen. Aber danach einen weiteren chinny und boxerisch nicht überragenden Gegner als I-Tüpfelchen zu wählen, ist suboptimal. Sechs kaum spannende Runden gegen einen Dillian Whyte, der sich scheinbar nur auf 3 davon vorbereitet hat – das ist nicht der Bang mit dem man den Sack zu macht. Das Resümee ist ja durchaus solide, aber nicht überragend. Greatest of all time? I’m sorry, dafür reicht es nicht.

Jetzt Eins vor:

Szenario: Gewinnt Fury gegen Usyk als Champ, dürft ihr mich nach Lust und Laune in der Luft zerreißen, wie ich Dilian Whyte zu Anfang des Beitrags zerrissen habe. Außerdem hilft das seinem Aufstieg in die „Top 5 aller Zeiten Diskussion“ – in die Diskussion!, eine definitive Antwort wird es nie geben. Sollte er gegen Usyk gewinnen, sollte er mindestens gegen einen Joe Joyce verteidigen. Eine Verteidigung gegen AJ wäre wahrscheinlich uninteressant, wenn dieser ein zweites Mal gegen Usyk verlieren würde. Die richtig großen Champs haben mehrere Titelverteidigungen. Fury hat bis jetzt grade mal zwei.

Tyson Fury

Szenario: Besiegt er AJ als Champ, sage ich „Danke Schön, na endlich!“. Mit Parker, Povetkin, Ruiz, Takam, Klitschko und Whyte hat AJ ein weitaus besseres Resümee als Wilder oder Whyte. Außerdem ist das der Kampf über den schon seit Jahren vor der Wilder Trilogie geredet wurde. Mit einem Sieg über AJ, nachdem der Usyk besiegt hat, würde Fury in die Top 5 Diskussion katapultieren wie nichts Anderes, denn siegt AJ über Usyk, wird die erste Niederlage gegen Usyk als Ausrutscher oder Lehrstunde dargestellt. Ähnlich der Lennox Lewis Narrative „er hat jeden besiegt, mit dem er je den Ring geteilt hat“.

Szenario: Verabschiedet Fury sich in den Ruhestand, hinterlässt er eine große Zahl von Zweiflern. Leider rennen viel zu Viele der großen „Töne Spuckerei“ hinterher und sind von YouTube Videos mit Zeitlupe Sequenzen, epischer musikalischer Untermalung und dem unerträglichen Wiederholen des Wortes „great“ hypnotisiert. Was zu Alis‘ Zeiten der Fernseher war, ist heute eben Social Medial. Ein großes Massenmedium. Der Unterschied ist jedoch, dass es um ein Vielfaches einfacher ist, sich auf Social Media als großartig zu inszenieren, als vor über 50 Jahren im Rundfunk.

Szenario: Ein Rückkampf gegen Dillian Whyte. Oh, heute ist ja gar nicht der erste April. Das ist ein schlechter Witz, den niemand braucht – erst recht niemand der die Geschichte von Tyson Fury als bestes Schwergewicht der Geschichte erzählen will.

Machen wir einen Strich drunter

Der vergangene Samstag war eine riesen Show, jedoch blieb das große Feuerwerk aus. Für den Boxsport an sich ist das definitiv ein Erfolg. Sportlich gesehen war das jetzt aber nicht überragend. Hauptschuld trägt ohne Zweifel Dillian Whyte. Was auch immer die Gründe seiner Niederlage waren, es war enttäuschend. Fury hat geliefert was er liefern sollte, nicht mehr und nicht weniger. Dafür gehört ihm der gebührende Respekt. Wenn er aufhören will, soll er das tun.

Wenn er jedoch zum Herrscher des Olymps‘ aufsteigen will, muss er entweder AJ oder Usyk besiegen. Am besten beide. Mit der Vereinigung zum „Undisputed“-Champion käme er automatisch schon mal dem großen Lennox Lewis näher. Aktuell ist er nach wie vor Top 1 oder Top 2 der Division. Für beide Platzierungen lassen sich genug Argumente finden. Die Vereinigung aller Titel jedoch, würde endlich mal wieder den Deckel auf den Kochtopf des Schwergewichtsboxen drauf machen.

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