Man weiß nicht so recht, ob es ein schräger oder kühner Gedanke war, den die WBO am 12. Dezember ganz unerwartet ins Leben gerufen hat, als sie Usyk zum Pflichtherausforderer für den von Joshua eben zurück erlangten roten Gürtel ernannte.
Eine überraschende Ankündigung der WBO
Zwar steht in deren goldenem Buch der Regeln in Sektion 14 geschrieben, dass ein Super Champion, wie es Usyk bis zuletzt im Cruisergewicht gewesen ist, auch zum Pflichtherausforderer der nächst höheren oder niedrigeren Gewichtsklasse ernannt werden kann. Allerdings steht auch in Sektion 6b, dass jeweils der am besten bewertete Boxer als Pflichtherausforderer zu ernennen ist. Man würde meinen, dass Usyks Status im Schwergewicht noch weitgehend unklar ist, schließlich hat der ehemals vereinigte Champion im Cruisergewicht gerade mal seinen ersten Sieg in der höheren Gewichtsklasse über den unvorbereiteten Ersatzgegner Chazz Witherspoon gewonnen, der seinerseits niemals auch nur in der Nähe eines Titelkampfes geboxt hat.
So ist das eben. Im professionellen Boxsport biegen sich alle Regeln stets in Richtung des größten verfügbaren Goldtopfes. Bei aller Liebe zum Geld kann man aber trotzdem davon ausgehen, dass der Kampf erst mal nicht innerhalb der angesetzten Frist von 180 Tagen stattfinden wird. Sowohl Joshua, der sich mit einer disziplinierten Performance gegen “Little Fat Kid” gerade so an Land retten konnte, als auch Usyk, der im Schwergewicht gerade erst Fuß fasst, dürften kurzfristig andere Prioritäten haben. Joshua hat bereits angekündigt gegen Wilder oder Fury kämpfen zu wollen und Usyk überlegt nach aktuellen Medienberichten im Februar gegen Dereck Chisora zu kämpfen.
Der Gedanke „Joshua gegen Usyk“ aber wird sich halten. Er darf reifen, bis mehr Kaufkraft dahinter versammelt ist, denn das Starpotential der „Katze”, wie der Kampfname von Usyk lautet, ist über die Grenzen des Boxsports hinaus im Westen noch nicht entfaltet. Ein paar Siege im Schwergewicht gegen namhafte Gegner könnten durchaus Abhilfe schaffen. Aber wird der Kampf die Erwartung erfüllen, die man sich von ihm macht, sollten die Kontrahenten Ende 2020 oder 2021 tatsächlich gegeneinander antreten? Das soll eine Gegenüberstellung der beiden Kämpfer zeigen.
Joshua: Ein überragender Athlet mit überschaubarem Boxtalent
Joshua ist für seine Athletik, rohe Muskelkraft, Größe und Reichweite bekannt. Trotz zweifacher Weltmeisterschaft dürfte er sich aber unter Liebhabern boxerischer Finesse keinen allzu großen Namen gemacht haben. Zu grob ist sein Stil. Zu sehr darauf ausgelegt, den Gegner mit blitzartigen Salven schierer Gewalt zu überwältigen und KO zu schlagen. Taktisches Fintieren um die Konterstrategie des Gegners offen zu legen, aktive Verteidigung, Kopfbewegung, schräge Winkel, Beinarbeit, Kombinationen – Dinge, die man eher nicht bei Joshua sucht.
Oft bewegt sich Joshua plattfüßig durch den Ring. In sicherer Entfernung hinter einem mitunter schwerfälligen Jab und einer, aus der Gewohnheit der Unerreichbarkeit heraus, gewachsenen Tendenz, die Schlaghand bis auf Höhe der Brust herab fallen zu lassen und die Führhand bis knapp übers Knie. Joshua kämpft fast ausschließlich auf der Zentrallinie und bewegt sich dabei mit Führ- oder Schlaghand in Reichweite und wieder hinaus. Dass er gezielt einen Stellungswinkel einnimmt, sieht man eher nicht. Im In-Fight ist Joshua wild und gewaltig und mit Ausnahme von Ruiz meist zum Nachteil für seine Gegner.
Er schlägt brutale Haken und Uppercuts – wie den gegen Klitschko – und nagelt seine Gegner mit Geraden in den Seilen fest. Dabei lässt er aber keineswegs Präzision walten, sondern schlägt wild um sich, bis ihm entweder der Atem stockt oder der Gegner zu Boden geht. Das ging gut, bis er gegen Ruiz verlor und funktionierte bis dahin aus drei Gründen. Erstens war Joshua seinen Gegnern stets körperlich weit überlegen. Zweitens besaß keiner von ihnen ernstzunehmende Beinarbeit oder Meidbewegungen. Drittens hatte keiner von ihnen schnelle Hände.
Ruiz war anders. Er war sicher nicht körperlich überlegen aber hatte zumindest noch im Hinkampf einfache Meidbewegungen und natürlich die schnellen harten Hände, die ihm den Sieg brachten. Nach seiner Niederlage musste der eigentlich sehr analytisch denkende Joshua seine Strategie der rohen Gewalt einmal ernsthaft überdenken. Zurück kam er dann mit einem Stil, den man Stick-and-Move nennt. Man bleibt weitgehend außerhalb der Reichweite des Gegners, greift mit gezielten geraden Schlägen an und verschwindet anschließend wieder. Die notwendige Beinarbeit war beeindruckend für den fast zwei Meter großen und trotz Gewichtabnahme immer noch rund 240 Pfund schweren Joshua. Aber manchmal blieb er hängen, geriet in den In-Fight und fing sich in kürzester Zeit doch zwei, drei, vier Schläge ein.
Er muss sicher noch daran arbeiten, wenn er diesen Stil perfektionieren will. Hier entpuppt sich der Kern der Angelegenheit: So erfolgreich Joshua auch ist, als Profiboxer ist er noch mitten in der Ausbildung. Nach nur 43 Amateurkämpfen wurde er Profi und gewann dann in seinem 19. Kampf spektakulär gegen Wladimir Klitschko. Olympisches Gold hin oder her. Schneller Erfolg ist im Boxen nicht immer ein Segen. Die Trainer und Manager von Saul Alvarez waren sich der mangelnden Erfahrung ihres Schützlings sehr bewusst, als er bereits nach nur 2 Jahren als Amateur ins Profilager wechselte, weil bei den Amateuren niemand mehr gegen ihn antreten wollte. Seine Ausbildung hat Canelo vornehmlich im Profilager erhalten, wo er vor allem in jungen Jahren bis zu siebenmal pro Jahr kämpfte. So eine Ausbildung fehlt Joshua, der im Rückkampf mit Ruiz gezeigt hat, wie wenig Spielraum er in seinem technischen Arsenal hat, um sich auf einen Gegner einzustellen.
Was ihm im Augenblick zu Gute gerät, ist sein überragendes athletisches Talent, sowie die weitgehend mindere boxerische Qualität oder das vorangeschrittene Alter seiner Gegner. Zwar kann er im Sturmangriff mit wilden anaeroben Schlagsalven beträchtlich austeilen, aber selbst gezielte Präzisionsangriffe, etwa wie die lange Rechte eines Deontay Wilder fehlen in seinem Repertoire.
Usyk: Ein Meisterboxer, der sich im Schwergewicht noch beweisen muss
Mit 335 gewonnenen von insgesamt 350 Amateurkämpfen und ebenfalls olympischen Gold, kann Usyk deutlich tiefer in die Trickkiste greifen, wenn es darum geht, seine Gegner mit boxerischen Manövern zu überlisten. Der aus der Ukraine stammende Rechtsausleger, der zusammen mit Vasiliy Lomachenko trainiert, ist für seine unglaubliche Beinarbeit und einen stechenden Jab bekannt, den er sehr variabel einsetzt. Zum einen natürlich, um Angriffe vorzubereiten. Aber noch viel wichtiger, vermag es Usyk durch ständiges Fintiren, Blockieren, Runterziehen und andere Tricks, die Führhand seines Gegners so zu kontrollieren, bis dieser sie kaum noch schlägt.
Den so frei werdenden Raum zwischen sich und seinem Gegner nutzt Usyk dann gerne um seinen Rechtsauslegerfuß in die dominante Position rechts vom linken Fuß seines Gegners zu setzen. Aus diesem Winkel kann er optimal die Linke zum Körper oder Kopf schlagen ohne fürchten zu müssen, selbst getroffen zu werden. Meistens ist Usyk ohnehin der Schnellere und deshalb gelingt es ihm in der Regel ohne großen Aufwand, die Führhand seines Gegners zu neutralisieren. Nicht so war das im Kampf gegen Michael Hunter. Der gewandte lange Boxer konnte Usyk in den ersten Runden mit schnellen Finten und einer langen rechten Schlaghand zusetzen. Anschließend glitt er mit geschmeidiger Meidbewegung unter dem Konter-Jab des Ukrainers nach außen davon.
Die lange Gerade ist ein bewährtes Mittel gegen Rechtsausleger, weil die deckende Schlaghand bei gegebenem Winkel auf dieser Linie das Kinn entblößt. In den ersten Runden wusch Hunter Usyk den Kopf. Bis der dann seinen Rechtsausleger-Jab gegen einen rechten Haken eintauschte. Damit fing er Hunter, bei dem Versuch durch die Falltüre nach draußen zu gleiten, ein und stieß ihn unsanft zurück in die Mitte, wo schon blutrünstig die Linke wartete. Richtig Fahrt nahm das Spiel erst nach der ersten Hälfte des Kampfes auf. Usyk sagt von sich selbst, ein langsamer Starter zu sein. Ab der 10. Runde wurde es dann aber immer fraglicher, ob der bis dahin ungeschlagene Hunter sich über die Distanz des Kampfes hinwegretten können würde. Schließlich ging es doch vor die Richter und Usyk gewann einstimmig nach Punkten. Usyk hat in diesem Kampf einiges einstecken müssen.
Es hat sich schon gegen Krzysztof Glowacki gezeigt, dass Usyk anfällig für Treffer ist, während er daran arbeitet, die Führhand seines Gegners zu neutralisieren. Es sind nicht die großen Schwinger. Dafür bleibt nicht genug Zeit. Aber eine schnelle Gerade oder ein Power-Jab finden schon mal ihr Ziel. Selbst der Gentleman, Chazz Witherspoon, der weitgehend unvorbereitet den ausgefallenen Tyrone Spong als Usyks ersten Gegner im Schwergewicht ersetzte, konnte ein paar Treffer landen. Wenngleich jede andere Bezeichnung als „äußerste Dominanz“ für Usyks Performance gegen Witherspoon als fragwürdig betrachtet werden muss, erhält dieses Prädikat ein paar Dämpfer. Es dauerte immerhin ganze sieben Runden, bis Usyk seinen unbekannten Gegner, der nirgendwo in der Nähe seines Niveaus boxt, durch Aufgabe in die Knie zwang.
Außerdem kamen Zweifel an Usyks Schlagkraft auf, da er mehrfach Kombinationen mit voller Kraft landete, aber Witherspoon nie ernsthaft wankte. Mit nur 215 Pfund brachte Usyk für das Schwergewicht auch vergleichbar wenig Kampfgewicht auf die Waage. Viel mehr Luft nach oben ist bei ihm aber nicht.
Boxer gegen Puncher
Ständen sich Usyk und Joshau in ihrem nächsten Kampf gegenüber, ergäbe sich nach Meinung des Autors wohl die Situation, dass Joshua Usyk mit der Stick-and-Move Taktik wenig entgegen zu setzen hätte, weil dessen Beinarbeit zu ausgefeilt, sein Jab zu präzise, stechend und variabel ist. Joshua, der keine sehr aktive Deckung besitzt und wenig fintiert, würde höchst wahrscheinlich bald seine Führhand an den konstanten Angriff über Rechts verlieren und würde in der Folge mit rechten Haken und linken Geraden zu Körper und Kopf beschossen.
Im disziplinierten In-Fight wäre Joshua Usyk höchst wahrscheinlich deutlich unterlegen, weil er nicht kompakt steht, wenn er schlägt. Sein Stil ist in erster Linie auf Distanz ausgelegt. Usyk dagegen kämpft in erster Linie in Reichweite um den Jab seines Gegners herum und hält seine Deckung viel enger. Auch Joshuas Tendenz die Hände fallen zu lassen, macht dessen Verteidigung keine rundere Angelegenheit. Was ihm bliebe wäre rohe Gewalt. Es wäre riskant, weil er nach seinen Blitzangriffen regelmäßig für eine Weile erschöpft ist, bevor er wieder Luft für einen weiteren Angriff hat – der Preis für wilde Salven im anaeroben Bereich.
Es ist denkbar, dass Joshua Usyk mit so einer Salve außer Gefecht setzt. Aber es würde eine gute Portion Glück dazu gehören. Die Qualität einen Boxer wie Usyk gezielt zu überlisten besitzt Joshua schlichtweg nicht und bislang verfügt er auch nicht über einen gezielten Präzisionsangriff, der Usyk zur Vorsicht zwingen würde. Dementsprechend wäre ein überwiegend einseitiger Kampf zu erwarten, bei dem Usyk Joshua seine Grenzen aufzeigt und letzterer gezwungen wäre, sich mit wilden Aktionen Respekt zu verschaffen. Das könnte mit Glück für Joshua gut gehen. Zu erwarten wäre aber, dass Usyk einen disziplinierten Kampf über 12 Runden bestreitet, sich den gelegentlichen Ausbrüchen von Joshua behände entzieht und am Ende unbestreitbar und verdient gewinnt.