Schattenboxer – das ist Hinterhof. Das ist die Farbschicht, die von Betonwänden abblättert, an denen verblichene Bilder ebenso verblichener Boxer kleben. Das ist der modrige Geruch selten gelüfteter Gyms, in denen Menschen sich quälen, am Rande der Gesellschaft, darunter viele ohne wirkliches Talent für das Boxen. Typen wie Walter Moore, die selbst beim Schattenboxen gegen ihren Schatten verlieren.
Schattenboxer – Die Geschichte von Walter Moore
„Jeder Gewinn hat seinen Preis.“
Das Profiboxen ist das Paradebeispiel des „winner-take-all“-Spiels: ein Dutzend Preisboxer (und ein halbes Dutzend Promotor) schöpft 99,9 % des zu verdienenden Geldes ab. Die übrigen bezahlen sich selbst mit dem Falschgeld ihrer Träume. Denn Boxen ist eine Lotterie, die eine Legion von Kämpfern mit ihren Körpern spielt. Auf einen Treffer kommen zig Nieten und dabei ist der Anteil der Gewinnlose verschwindend gering verteilt. Die Boxer haben die Hände im Spiel, doch das Spiel nicht in der Hand und die (Box-)Welt ist ungerecht, schlecht – und wir wollen sie so haben. Viva Las Vegas oder wüste Geschäfte in der Wüste! Im Boxmekka Cesars Palace beispielsweise, der größten architektonischen Geschmacksverirrung seit Nero, hat ein gewisser Joe Louis regelmäßig die Fäuste erhoben – aber nur, um die besten Gäste des Casinos (die ewigen Verlierer also) zu begrüßen. Boxen symbolisiert die Spielermentalität eben am besten: k.o. oder o.k. – auf einen Schlag.
Walter Moore war Schläge gewohnt. Schon als Kind musste er einstecken. Aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen litt der jüngste Spross von fünf Geschwistern ständig unter dem Jähzorn seines Vaters und der Trinksucht seiner Mutter. Und Jahre später, als der erwachsene Walter Moore 1966 versuchte im Ringgeflecht als Preisboxer Fuß zu fassen, bekam seine Karriere schon im Anfangsjahr den Knockout verpasst. Nach vier Siegen in Folge steckte er noch in seinem Debütjahr als Berufsfighter die erste Punktrichterentscheidung gegen sich ein.
Nach zwei Unentscheiden machte die Punktniederlage gegen einen gewissen Jimmy McDermott ihm besonders zu schaffen. Moore haderte mit den Entscheidungen der Kampfrichter, wollte beweisen, dass mehr in ihm steckte und brannte auf eine Revanche, die er kurze Zeit später bekam. Das Ende folgte jäh. Er wurde von McDermott kalt erwischt. In der zweiten Runde abserviert. Und so sehr sich Moore in den nächsten Jahren abrackerte und kämpfte, immer wieder war er zum Scheitern verurteilt. Innerhalb und ausserhalb des Boxrings. Einem Sieg folgte die nächste Knockoutniederlage. 1970 warf Moore das Handtuch, doch kurze Zeit später machte seine Firma pleite, sein Beziehung ging in die Brüche und sein Truck blieb bei der ersten Auftragsfahrt mit einem Totalschaden auf dem Highway nach Nirgendwo liegen.
Man sagt, dass Glückskinder Menschen sind, die alles schaffen. Pechvögel aber sind Menschen, die von allem geschafft werden. Moore war so ein Pechvogel. In den 90ern stand er mit leeren Händen und Taschen da. Kein Haus, kein Job, kein Geld. Die nackte Verzweiflung trieb ihn in eine Bankfiliale in Boston. Dort fingerte er einen Zettel aus seiner Hosentasche. „Raus mit dem Geld!“ hatte er darauf gekritzelt, eine Waffe hatte er nicht. Moore schob den Zettel über den Schalter, der Bankangestellte las ihn und drückte den Alarmknopf. Fünf Minuten dauerte es, dann klickten die Handschellen und Moore war verhaftet.
Er habe niemanden weh tun wollen, beteuerte Walter Moore später. Er brauchte lediglich ein paar Dollar für seinen Traum: Einmal im Leben wollte er gewinnen. Einfach nur einmal einen Jackpott gewinnen! Der ehemalige Preisboxer war der Spielsucht erlegen. Besonders Rubbellose hatten es ihm angetan. Vor Gericht wirkte er niedergeschlagen, in sich gekehrt und hilflos. Er sei eben sehr zurückhaltend, meinten die wenigen Menschen, die ihn näher kannten; zurückhaltend, aber liebenswert. Vielleicht, so sagte man sich im Ort, vielleicht hatte er als Boxer zuviel auf die Birne bekommen.
Ein paar Monate nach dem Überfall wurde Moore verurteilt: fünf Jahre auf Bewährung. Er zog in eine Therapie-Einrichtung in eine benachbarte Ortschaft. Viel los war hier nicht, es gab eine Schule, einen Supermarkt. Seine Unterkunft war einfach möbliert. Einzellbett, Nasszelle, hell und steril. Er fühlte sich wohl hier, die Türen standen offen. Nur zu den Therapiezeiten musste Moore da sein. In der Zwischenzeit, so glaubte er, konnte er machen, was er wollte.
Und Walter Moore wusste genau, was er wollte. Er wollte spielen, endlich gewinnen. Das Geschäft, in dem er sein Glück dieses Mal zu finden glaubte, lag in Maine, an der Unabhängigkeitsstraße. Er kaufte hier nie viel ein, er hatte ja nur wenig Geld, er konnte nicht einmal die 50 Dollar für seinen Bewährungshelfer zahlen. Darum ging Moore schnurstracks zur Dame am Lotteriestand. Von dem bisschen Behindertenstütze, die ihm blieb, legte er ihr sechs Dollar auf den Tisch, soviel kostete das Spiel. Ein Los hatte sechs Felder, sechs Chancen auf das große Glück, wie bei seiner einzigen Siegesserie zu Beginn seiner kurzen Boxkarriere.
Er stand also am Lotterieschalter und kratzte mit einem Centstück die Beschichtung von den Feldern. Ein Treffer. Zwei. Drei … Das Unglaubliche geschah: Moore schaffte den „Lucky Punch“ und gewann 1 Million Dollar. Er war reich. Mit einem Schlag! Wie benommen stolperte „Punch-Drunk-Walter“ noch am selben Tag in das Hauptgebäude der Lotteriegesellschaft. Die Angestellten lotsten ihn mit seinem Rubbellos in einen Raum, den „Winners Circle“. Der Lotteriechef kam mit geschäftigen Schritten herein, griff nach Moores Hand und schüttelte sie. Dann machte er ein paar Scherze und reichte dem Gewinner den Scheck wie einen WM-Gürtel.
Es gab keinen Grund für die Lotteriegesellschaft, Moore den Gewinn zu verweigern. Der Mann hatte eine Sozialversicherungsnummer, war ordnungsgemäß gemeldet und amerikanischer Staatsbürger war er obendrein. Nur dass er ein verurteilter Bankräuber war, ahnte der Lotteriechef nicht. Da stand Moore nun im „Winners Circle“, hielt den Scheck in beiden Händen. Ein bisschen wirkte er dabei wie ein Sträfling, der mit einer Nummer vor der Brust vor dem Gefängnisfotografen stand. Fast schien es, als argwöhnte er, dass das Glück flüchtig ist, dass es ihn so plötzlich, wie es kam, auch wieder verlassen konnte. Er war es schließlich als Boxer gewohnt, ein Schlag, ein Treffer genügt und das beste Blatt kann sich wenden.
Einige Wochen später musste Moore sich einen Anwalt nehmen. Er brauchte jetzt dringend Hilfe, man hatte ihn vorgeladen. Mit dem Loserubbeln hatte er gegen seine Bewährungsauflagen verstoßen. Glückspiel ist verboten, wenn man eine Bank überfallen hat, um Rubbellose zu kaufen. Die Lottogesellschaft forderte ihr Geld zurück, der Staatsanwalt machte Druck und von allen Seiten prasselten die Schläge auf den Exboxer ein. Gewinnen, das hatte Moore sich anders vorgestellt.
Ein halbes Jahr später kauerte der geschlagene Loser wieder vor dem Richter. Den Scheck hatte er zurückgeben. Er sagte nicht viel während der Verhandlung. Der Richter schaute über seine Brille hinweg, sah einen gebeugten Mann. Einen armen Tölpel, der genug gestraft war in seinem verlorenen Leben. Das genügte zumindest, um noch einmal mit einem blauen Auge davonzukommen und nicht ins Gefängnis zu müssen. Vielleicht hätte Walter Moore 1966 bei seinem Profidebüt nicht ausgerechnet das Glück bezwingen sollen, als er einen gewissen Mr. Lucky im Ring verprügelte. Wie dem auch sei, das Letzte, was man von Moore hörte, er sei auf nach Las Vegas, um alles auf eine Karte zu setzen. Viva Las Vegas, der Kreis schließt sich und der Verlierer geht leer aus.