Offener Brief von Mahmoud Charr

Foto: Privat

In einem offenen Brief bezieht der amtierende WBA-Weltmeister Mahmoud Charr zu verschiedenen Themen Stellung. 

Offener Brief

Wegen der Corona-Pandemie hatte ich viel Zeit zum Nachdenken. Aus diesem Grund habe ich beschlossen, diesen offenen Brief zu schreiben. Zuerst möchte ich mich bei allen Menschen in Deutschland entschuldigen! Ich hatte nach meinem WM-Sieg 2017 geschworen, dass ich den deutschen Pass hätte. Ich wollte unbedingt Weltmeister für Deutschland sein. Deutschland, das Land, das mir und meiner Familie eine zweite Heimat geboten hat. Wir kamen 1989 aus dem Krieg und hatten hier ein Dach über dem Kopf, medizinische Versorgung und Sicherheit gefunden. Schon als ich mich auf die WM vorbereitet hatte, stand ich unter enormem psychischen Druck. Ich wollte meine deutschen Fans und das deutsche Volk nicht enttäuschen. Mahmoud, meinen richtigen Vornamen, hatte ich sogar gegen Manuel ersetzt um den Menschen zu zeigen, dass ich mich integriert habe. Inzwischen sehe ich ein, dass ich  einen großen Fehler gemacht habe.

1989, während der Wiedervereinigung Deutschlands, bin ich damals als Flüchtlingskind zusammen mit meiner Mutter und meinen Geschwistern aus dem Libanon nach Deutschland eingereist. Bis zu meinem 27. Lebensjahr hatte ich leider nur eine Duldung als Aufenthaltsstatus und durfte NRW nicht verlassen. Nur mit einer amtlichen Genehmigung war das möglich. So blieben mir damals viele Türen verschlossen. Ich durfte nicht einmal eine Ausbildung anfangen und jede Arbeit und jegliche Zukunftsperspektiven blieben mir verwehrt. Dadurch hatte ich viel freie Zeit um mit Menschen mit gleicher Problematik abzuhängen. Aus meiner Sicht sind so die Parallelgesellschaften und einige Clans entstanden, mit denen auch ich eine Zeit lang zu tun hatte. Ich hatte den Wunsch und den Drang, von der Gesellschaft akzeptiert zu werden. Wir alle wollten auch Jemand sein, den man achtet, respektiert und vor allem in die Gesellschaft aufnimmt. Unsere Unerfahrenheit und Jugendlichkeit dachte, wenn man Erfolg vorgaukelt gehört man einfach dazu. Also mehr Schein als Sein!

Inzwischen bin ich froh zu sehen, dass den Flüchtlingen schneller geholfen wird. Sie kommen früher in die Integrationskurse und können früher ins Arbeitsleben. Auch die Regierung hat aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt. Hätte es damals auch schnellere Verfahrensweisen bei den Asylanten gegeben, gäbe es heute wahrscheinlich eine geringere Problematik mit den Clans ins Deutschland.

Viele von uns hätten einer Ausbildung oder einer Arbeit nachgehen können. Jahrelang nur geduldet zu werden und nicht reisen zu dürfen kann für einen jungen Menschen sehr belastend sein. Einfach mal für ein Wochenende mit einer Freundin nach Paris fahren war unmöglich. Zum Glück entdeckte ich in dieser schweren Zeit den Sport für mich. Ja, der Sport war meine persönliche Rettung. Da zählte nur meine Leistung und nicht die Herkunft oder aus welcher sozialen Schicht ich abstamme. Mein Ehrgeiz und meine Disziplin führten zu großen Erfolgen und auf einmal hatte ich in meinem Leben eine Perspektive.

2018 war ich erneut sehr großer Kritik ausgesetzt, da ich als Friedensbotschafter der WBC meinen WBC-Friedensgürtel an den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan überreichte. Damals war es mir ein Anliegen, mich bei dem Land und der Regierung sowie den türkischen Bürgern zu bedanken, die über vier Millionen Menschen aus meinem Geburtsland aufgenommen und somit vor dem Tod und Hunger im Krieg bewahrt hatten.

Als ich im November 2017 meinen langersehnten WM-Siegergürtel in den Händen hielt, war ich überglücklich. Ich ging für Deutschland unter deutscher Flagge in den Ring und ich holte für „uns“ den Weltmeistertitel. Seit meinem 5. Lebensjahr lebe ich in Deutschland und habe mein Geburtsland nie gesehen ausser im Krieg. Deshalb war es mir wichtig, mich bei Deutschland und seinen wunderbaren Menschen zu bedanken. Deswegen sprach ich nach meinem WM-Sieg zu unserer Bundeskanzlerin Angela Merkel, die ich sehr verehre und der ich meinen WM-Gürtel gewidmet habe.

Den Entschluss, meinen Namen wieder in Mahmoud Charr zu ändern habe ich getroffen, weil ich authentisch sein will. Mir wurde damals von den Promotern und Managern angeraten, den Namen in Manuel zu ändern, um akzeptiert zu werden. Mein eigener Wunsch dazu zu gehören, überzeugte mich damals schließlich.  Jetzt will ich mir wieder selbst treu sein und an mich glauben. Ich will den Namen Mahmoud Charr, den mir mein Vater vor seinem viel zu frühen Tod gegeben hatte, wieder mit Stolz tragen.

Ich hatte in den letzten Wochen viel Zeit in mich zu gehen und über viele Themen und Probleme der Gesellschaft nachzudenken. Es macht mich traurig, wenn Deutsche als Rassisten oder die Menschen mit Migrationshintergrund als Scheiß-Ausländer beschimpft werden. Wir alle müssen versuchen mehr miteinander zu kommunizieren, wir alle müssen versuchen uns gegenseitig besser zu verstehen. Wir alle müssen lernen, dass die gemeinsame Sprache hilft, Vorurteile abzubauen. Deshalb appelliere ich an alle Flüchtlinge der letzten Jahre, die deutsche Sprache zu lernen. Es ist gar nicht so schwierig und wenn wir uns gegenseitig unterstützen wird die Barriere, die durch fehlende Kommunikationsmöglichkeiten entsteht, schnell abgebaut.

Natürlich gibt es auf beiden Seiten einige Gruppierungen, die über das Feld hinausschießen und grausame Taten begehen. Ich kann an dieser Stelle nur Mahatma Gandhi zitieren:

„Wenn ein paar Tropfen des Ozeans schmutzig sind, ist nicht der ganze Ozean verschmutzt.“

Wie schon erwähnt, machte ich einige Fehler, die ich nun nicht mehr rückgängig machen kann. An dieser Stelle hoffe ich, dass Sie meine Entschuldigung annehmen. Ich bereue es sehr, wegen meinem Pass gelogen zu haben. An dieser Stelle möchte ich mich bei meinem Freund Vim Vomland von der BILD-Zeitung entschuldigen. Er hat sich nach meinem deutschen Pass erkundigt und ich log ihm ins Gesicht. Leider kann ich die Zeit nicht zurückdrehen. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an diese beschämende Episode in meinem Leben zurückdenken muss. „Lieber Vim, verzeih mir bitte! Ich besitze die deutsche Staatsbürgerschaft noch nicht, aber hoffentlich sehr bald, denn in meinem Herzen bin ich ein Deutscher!“

Ich will wieder einen Neuanfang wagen. Der Traum „von der Straße zu den Sternen“ ist noch nicht ausgeträumt! Mein ganz besonderer Dank gilt meinem neuen Promoter Erol Ceylan und dem ganzen Team von EC-Boxing. Sie alle stehen hinter mir, um mich bei meinem neuen Leben 2.0 zu unterstützen.

Bei meinem ehemaligen Investor und Manager Christian Jäger möchte ich mich an dieser Stelle auch bedanken. Ohne sein Investment und seinen Glauben an mich hätte ich es nicht geschafft, Weltmeister zu werden. Mein großer Dank auch an Bernd Trendelkamp von Global Sports für den Einsatz und die Begleitung.

Außerdem freue ich mich sehr, in Zukunft mit Frau Vida Rashid (Vorsitzende Integrationsrat Stadt Brühl) neue Projekte für Integration umzusetzen. Sie bringt die Erfahrung in diesem Bereich mit und auch sie ist als Flüchtlingskind nach Deutschland gekommen. Wir haben viele Gemeinsamkeiten und dasselbe Ziel.

Mahmoud Charr

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