Die Schwergewichtslegende kehrt in einem spektakulären Comeback live auf Netflix zurück. Was ist vom Kampf realistisch zu erwarten?
Der Kampfsport schreibt immer wieder kuriose und bemerkenswerte Geschichten. Manchmal sind es großartige Siege von Underdogs, tragische Abstürze einstiger Stars oder auch Comebacks, von denen man nicht wusste, dass man sie nochmals erleben möchte. Eine weitere dieser Geschichten ist gewiss das Comeback von Mike Tyson (50-6). Die lebende Schwergewichtslegende galt in den späten 80er-Jahren als gefährlichster Boxer weltweit und war auch in den 90ern noch erfolgreich. Spätestens nach der Jahrtausendwende ging es sportlich jedoch rapide für Tyson bergab, und zahlreiche Skandale machten die Runde. Nach einer vorzeitigen Niederlage gegen Kevin McBride (35-10-1) war das Karriereende im Juni 2005 besiegelt. Nach dieser desolaten Vorstellung schienen weitere Kämpfe undenkbar.
Mike Tyson kämpfte zuletzt im September 2020 gegen Roy Jones Jr
Im Grunde hätte man das Kapitel Mike Tyson damit sportlich für beendet erklären müssen, doch das Boxen wäre nicht das Boxen, wenn es nicht auch solche Personalien wieder zu Geld machen könnte. Im September 2020 bestritt Tyson einen Exhibitionkampf gegen eine andere Boxlegende, Roy Jones Jr (66-10). Der Kampf wurde zwar kritisch beäugt, zog aber dennoch zahlreiche Fans an, die sich freuten, die beiden Boxer nochmal im Ring zu erleben. Das hätte an sich nochmals ein guter Abschluss für Tyson sein können, der zuvor auf Fantour durch die Welt reiste, wo er teilweise kaum noch laufen konnte und mehr tot als lebendig wirkte. Nach diesen Eindrücken war es positiv zu sehen, dass sich Mike Tyson sportlich wieder in so guter Form präsentieren konnte.
Nun wird Tyson nach über vier Jahren wieder in den Boxring zurückkehren und sogar einen Kampf bestreiten, der in seine Kampfbilanz einfließt. Damit ist dieser Kampf auch nochmals ernstzunehmender als der Schaukampf mit Roy Jones Jr, der auf freundschaftlicher Basis mit einem Unentschieden gewertet wurde. Die Frage stellt sich: Was kann man vom kommenden Kampf realistisch erwarten? Wird es tatsächlich ein offener Kampf, den beide gewinnen wollen und dürfen? Oder sind mögliche Absprachen denkbar oder gar wahrscheinlich, um ein PR-Desaster zu vermeiden?
Jake Paul – boxender Internetstar mit Schlagkraft
Tyson wird am Freitag im AT&T Stadium in Arlington, Texas, kämpfen. Das ist eine gewaltige Kulisse, die bis zu 90.000 Zuschauer fasst. Er trifft auf den Internetstar Jake Paul (10-1), der neben seinen geschäftlichen Aktivitäten auch das Boxen für sich entdeckt hat – als potenzielle Einnahmequelle. Paul bestritt bisher 11 Profikämpfe, von denen er 10 gewann. Mit 27 Jahren befindet sich Paul natürlich in einer deutlich besseren körperlichen Verfassung als der 58-jährige Mike Tyson. Dieser Fakt lässt sich nicht ändern – er ist biologisch bedingt. Entsprechend gilt Paul auch als Favorit in diesem Kampf.
In der Vergangenheit zeigte Paul in seinen Kämpfen bereits starke Finisherqualitäten, indem er reihenweise ehemalige Kampfsportler auf die Bretter schickte. Zuletzt war es der Bareknuckle-Champion Mike Perry, den Paul innerhalb von sechs Runden stoppte. Auch Profiboxer wie Andre August (10-2-1) wurden von Paul mühelos besiegt. Zwar ist Paul boxerisch sicher nicht sehr gut ausgebildet und weist einige Schwächen auf, aber er nimmt das Boxen ernst, ist in hervorragender körperlicher Verfassung, hat ideale Trainingsbedingungen und verfügt möglicherweise über diverse Präparate, die ihn leistungsstärker machen. Diese Kombination ist sehr gefährlich für einen 58-jährigen Mike Tyson, der zwar als Exweltmeister über eine großartige Vita verfügt, aber gegen die biologische Uhr kämpft.
Das Generationenduell hat großes Zuschauerpotenzial
Der Kampf findet in der Nacht zum Samstag statt und wird weltweit auf Netflix übertragen. Das mediale Echo ist enorm, und das Interesse ist sogar bei Menschen vorhanden, die sonst wenig mit Kampfsport zu tun haben. Mike Tyson ist einfach ein Name, der weltweit Aufmerksamkeit erzeugt. Interessant ist der Kampf auch, weil er mehrere Generationen anspricht. Mike Tyson steht für eine ältere Generation, die die großen Schwergewichtsjahre der 90er erlebt hat und sich gerne daran erinnert. Für viele ist Tyson der unumstößliche Held, die zerstörerische Maschine, die niemand in ihrer Prime hätte bezwingen können.
Auf der anderen Seite steht Jake Paul, ein Star des Internets, der vor allem junge Menschen anspricht, insbesondere die Generation Z. Er bietet spektakuläre Knockouts, die viral gehen, versteht das Geschäft, besitzt viele Follower und lebt von einem Hype, der in Tysons aktiven Jahren so noch nicht existierte. So vereint dieser Kampf zwei Generationen und hat das Potenzial, ein riesiges Publikum zu erreichen.
Wie realistisch ist eine Kampfabsprache im Vorfeld?
Doch was kann man vom Kampf erwarten? Realistisch gesehen hat Jake Paul zwar boxerische Schwächen, aber durch seine körperliche Überlegenheit gute Chancen, den Kampf über die Kondition zu gewinnen. Tyson zeigte in Vorbereitungsvideos zwar beeindruckende Dynamik, allerdings meist nur über 15–20 Sekunden. Niemand bestreitet, dass Tyson auch mit 58 Jahren noch harte und schnelle Kombinationen abfeuern kann, doch wie lange kann er dieses Tempo halten? Realistisch betrachtet ist nach zwei bis drei Runden die Luft wohl komplett raus. Zudem ist ungewiss, wie Tyson überhaupt auf harte Schläge reagiert. Man erinnere sich an Evander Holyfields Comeback, bei dem er bereits von leichten Schlägen das Gleichgewicht verlor. Wenn Paul seine volle Schlagkraft einsetzt, dürfte das für Tyson schwer zu verkraften sein.
Tysons beste Taktik wäre wohl, in den ersten Runden alles zu geben und auf einen KO zu hoffen, bevor Paul seine konditionellen Vorteile ausspielen kann. Paul hat zwar angekündigt, Tyson KO zu schlagen, aber will das wirklich jemand sehen? Ein 27-jähriger Internetstar, der eine alte Schwergewichtslegende KO schlägt, wäre doch ein PR-Desaster, auch für Netflix. Die Fans wollen einen kampfesfreudigen Tyson sehen, der seine Aktionen landet und Spaß im Ring hat. Ein vernichtender Knockout ist sicher nicht im Interesse der Zuschauer oder der Veranstalter.
Deshalb ist es denkbar, dass es Absprachen geben könnte: etwa, dass Paul Tyson nicht zu hart am Kopf trifft oder in den späten Runden etwas zurücknimmt. Dies ist natürlich Spekulation, aber ein denkbares Szenario. Nach dem Kampf könnte Paul Tyson Respekt zollen und sagen, wie unglaublich stark und gefährlich er war – ein Schachzug, der Sympathie und Respekt gewinnen könnte.
Netflix überträgt das Event am Freitag
Ungeachtet des Ausgangs kann man gespannt sein, wie das Event verläuft. Ein Stadionevent hat immer eine besondere Atmosphäre, und man kann nur hoffen, dass Mike Tyson als Legende des Sports gesund aus dem Ring steigt. Sein Platz ist eigentlich im Ruhestand, nicht mehr im Boxring.
Übrigens gibt es weitere hochkarätige Kämpfe auf der Undercard: darunter den größten Frauenkampf, den es aktuell gibt – das Rematch zwischen Katie Taylor (23-1) und Amanda Serrano (47-2-1) im Superleichtgewicht. Zudem findet eine Weltmeisterschaft der Männer im Weltergewicht statt. Selbst die kostenlosen Prelims sind hochkarätig und beinhalten teilweise Titelkämpfe. Insgesamt also ein spannendes Event, nur beim Main Event bleibt offen, wohin die Reise geht. Die Maincard startet in der Nacht zum Samstag um 2 Uhr auf Netflix, die Prelims werden zuvor kostenlos auf YouTube übertragen.