Das Schwergewicht gilt seit jeher als die Königsklasse des Boxsports. Von Jack Johnson über Joe Louis, bis hin zu Muhammad Ali und den Klitschko Brüdern: im Reich der schweren Jungs waren schon viele illustre Namen unterwegs, die der Boxgeschichte ihren Stempel aufdrücken konnten. Doch bereits um die Jahrtausendwende erlebte die Gewichtsklasse einen Abstieg, von dem sie sich bisher nicht so recht erholt hat. Zu wenige neue Talente, langweilige Kämpfe und eine durch die Titelflut der Verbände einhergehende Verwässerung des Sports – dies ließ speziell die Fans aus Übersee Abstand nehmen von der einstigen „Glamour Division“. Erst mit der Ankunft der Briten Anthony Joshua änderte sich so einiges. Die Welt schaut wieder auf das Schwergewicht, doch wer sind die neuen Gesichter, die der Gewichtsklasse auch wieder die Qualität geben können, die sie so sehr benötigt?
Im Folgenden möchten wir den Lesern von Boxen1.com die neuen Talente des Schwergewichts präsentieren. Dabei geht es sowohl um frisch im Profibereich angekommene Boxer als auch um Männer, die schon auf der Schwelle zur Weltspitze stehen, jedoch noch keine WM-Chance erhalten haben. Zudem blicken wir weit voraus auf vielversprechende Amateurboxer, die in Zukunft auch eine Rolle bei den Profis spielen könnten.
Die Deutschen
Agit Kabayel (25 Jahre alt, Kampfrekord: 18-0-0, 13 KOs)
Es ist schon ein paar Jahre her, als der Name Agit Kabayel das erste Mal gefallen war. Anfang 2014 pries Promoter Ahmet Öner seinen damaligen Schützling an, bezeichnete ihn als große deutsche Schwergewichtshoffnung. Damals war noch wenig bekannt über den kurdisch-stämmigen jungen Mann und dessen Fähigkeiten. Das war kurz vor Öners Veranstaltung in der türkischen Hafenstadt Tekirdağ, wo im Hauptkampf Kubas ehemaliger Olympiasieger Odlanier Solis in einer enttäuschenden Darbietung am alternden US-Amerikaner Tony Thompson scheiterte. Im Rahmenprogramm traf Kabayel auf den Nigerianer Gbenaga Oluokun, der einst beim Hamburger Boxstall Spotlight Boxing angestellt war.
Es war der erste Auftritt vor größerem Publikum für den damals unerfahrenen Kabayel. Die Vorschusslorbeeren seines Promoters konnte er dabei nicht so wirklich zurückzahlen, mühte sich mit seinem afrikanischen Kontrahenten ab und hätte nach Meinung vieler am Ende verlieren müssen. Die Punktrichter waren allerdings nochmal gnädig und so reichte es für eine umstrittene Split Decision. Danach wurde es ruhiger um Kabayel. Die Geschäftsbeziehung mit Ahmet Öner ging heimlich, still und leise zu Ende, es folgten Gastspiele auf Undercards von Sauerland & Co., bevor der Magdeburger Boxstall SES das ungeschlagene Talent 2016 unter Vertrag nahm.
Danach ging es schnurstracks nach oben, er errang im ersten Kampf gleich den vakanten EBU-EU-Titel gegen den damals ebenfalls unbesiegten Christian Lewandowski. Mit Trainer Sükrü Aksu in seiner Ecke entwickelte sich der Junge aus dem Ruhrpott merklich weiter – so bezwang er Anfang 2017 den Belgier Herve Hubeaux nach Punkten, sicherte sich den vakanten EM-Titel und brachte sich für die bis dato größte und schwierigste Aufgabe seiner Karriere in Stellung. Dafür musste er in den Fürstenstaat Monaco reisen, wo er als Underdog gegen den britischen Rüpelboxer Dereck Chisora ins Rennen musste.
Hier offenbarte Agit Kabayel einige neues Seiten in seinem Repertoire, bewegte sich auffallend gut in der Rückwärtsbewegung und ließ seinen etwas plump nach vorne marschierenden Gegner ein ums andere Mal ins Leere laufen. Die reife boxerische Leistung markierte den Wendepunkt vom reinen Talent zum ernsthaften Contender. Zurecht bekam Kabayel nach 12 Runden das Urteil zugesprochen. Der in Wattenscheid wohnhafte Boxer kann vieles: seinen beweglichen Oberkörper nutzt er effektiv, damit er die Distanz verkürzen kann. Dort arbeitet er mit kurzen, präzisen Haken, die er aus verschiedenen Winkeln abfeuert und so den Druck konstant aufrecht erhält. Dies zeigte er auch zuletzt bei der seiner Titelverteidigung gegen den Serben Rovcanin, den er in Runde 3 auf diese Art abfertigte. Kabayel ist definitiv bereit für die Top 20 im Schwergewicht. Ganz oben dürfte die Luft für ihn aber sehr dünn werden.
Tom Schwarz (23 Jahre alt, Kampfrekord: 21-0-0, 13 KOs)
Ob SES ihre andere Schwergewichtshoffnung irgendwann mal zum großen Stallduell gegen Kabayel stellen wird, erscheint aktuell unwahrscheinlich. Zweigleisig zu fahren macht im Heavyweight-Dschungel sicher mehr Sinn, auch wenn das Interesse seitens der Fans an solch einem Duell sicher groß wäre. Bei der anderen Hoffnung ist natürlich von niemand geringerem als Tom Schwarz die Rede. Der 23-Jährige Hallenser wird ja schon seit ein paar Jahren speziell vom Mitteldeutschen Rundfunk in allen Phasen des Lebens den Leuten präsentiert. Egal ob es dabei um sportliche Belange oder die anstehende Hochzeit geht, die Kamera scheint immer auf Tom Schwarz gerichtet zu sein.
Wir wollen aber dann eher das beleuchten, was mit der Action im Ring zu tun hat. So würde es mit Sicherheit auch Coach Dirk Dzemski wollen. Der ehemalige deutsche Meister im Mittelgewicht hatte sich Tom Schwarz schon in dessen Jugendzeit angenommen und ihn konsequent vom Amateur hin zum Profi weiterentwickelt. Nach seinem ersten Karriere-technischen Ausrufezeichen, als er den damals mit ebenso makellosem Kampfrekord angetretenen Ilja Mezencev ausknockte, ging es für Schwarz schrittweise nach oben. Es folgten Siege über Leute wie Dennis Lewandowski oder Samir Nebo, bis mit Senad Gashi der wohl interessanteste Gegner seiner bisherigen Laufbahn als Herausforderer für Schwarz präsentiert wurde.
In dem dortigen Gefecht war die Rollenverteidigung klar: Schwarz, der 1,97 m Hüne, der die lange Distanz zu halten versucht, gegen den kleineren Gashi, welcher in die Vorwärtsbewegung geht und dort mit Haken und Kombinationen operiert. So sah es dann auch aus, nur mit dem Zusatz, dass Kopstöße (von Gashi) und Klammern + Auflegen (von Schwarz) dazu kamen. Bekanntermaßen endete das Ganze in einer Disqualifikation Gashis und einer wüsten Schlägerei im Anschluss. Was der Kampf an sich offenbarte, waren gewisse Defensivlücken und mittelmäßig ausgeprägte Fähigkeiten im Infight seitens Schwarz‘. Dieser fühlt sich wohler, wenn er das Geschehen behutsam aus der Ringmitte kontrollieren und gelegentlich in Spurts explodieren kann.
Zu verbessern wäre mit Sicherheit noch die Physis, um einem drückenden Mann wie Gashi am Mann mehr entgegensetzen zu können. Mit dem ein oder anderen Prozentpunkt an zusätzlicher Schlagkraft würde sein langes Schulbuch-Boxen an Effektivität gewinnen. Groß genug ist er ja und die Jugend ist auf seiner Seite.
Albon Pervizaj (22 Jahre alt, Kampfrekord: 8-0-0, 6 KOs)
Die Wege unseres nächsten Kandidaten könnten sich – anders als im Falle von Kabayel – sehr wohl mit denen von Tom Schwarz kreuzen. Nicht erst seit gestern äußert sich Albon Pervizaj immer wieder hinsichtlich eines solchen Kampfes. Bei den Amateuren schlug er Schwarz zwei Mal und möchte dieses Kunststück bei den Profis wiederholen. Dass es für den Kampf vielleicht noch etwas früh ist, deutet die Kampfbilanz von Pervizaj an. Gerade einmal 25 Runden bestritt der junge Hamburger bisher – dies gegen sorgfältig ausgesuchte Journeymen. Dabei deutete Pervizaj sein Können an, ein Kampf mit Schwarz wäre aber auch gut für 2019 aufgehoben.
Verheizen sollte man den Nachwuchsboxer nämlich nicht, auch wenn dieser auf eine erfolgreiche Amateurlaufbahn zurückblicken kann und demnach schon mit einer Menge Rüstzeug ins Profigeschäft gestartet ist. Der deutsche Meister von 2014 hatte eigentlich auch mit einer Olympia-Teilnahme in Rio geplant, aufgrund einer neuen Regelung rutschte allerdings Landsmann David Graf als Boxer der damaligen AIBA Pro Boxing Liga ins Turnier und nahm so den freien Platz in Anspruch. Pervizaj hatte also überhaupt keine Gelegenheit sich zu qualifizieren. Gefrustet ob dieses Vorgangs, unterschrieb er kurz darauf bei Sauerland und gab im Frühjahr 2017 sein Debüt.
Pervzaj hatte in der Zwischenzeit einiges an Masse zugelegt. Boxte er als Amateur noch in der Gewichtsklasse bis 91 kg, ging bei seinem ersten Kampf mit gut 105 kg, also als echter Schwergewichtler, an den Start. Mit ca. 1,90 m sticht er heutzutage nicht mehr groß heraus, ist aber boxerisch der wohl am höchsten veranlagte Mann, den wir aktuell in Deutschland haben. Seine Kombinationen führt Pervizaj technisch einwandfrei und mit guter Geschwindigkeit aus, die Beinarbeit ist wenig holprig und lässt ihn gut in den Distanzen hin und her gehen. Er muss allerdings noch Wege finden, wie er sich speziell von größeren Gegnern nicht allzu leicht abklammern lässt. Gegen die 2-Meter-Riesen diese Welt könnte dies nämlich zum Knackpunkt werden.
Weitere Talente aus Deutschland
Nach seinem höchst unrühmlichen Gefecht gegen Tom Schwarz, gab Senad Gashi ein tolles Interview hier bei BOXEN1.com, mit dem er menschliche Größe bewies. Klar ist aber auch, dass der 1,84 m kleine Schwergewichtler weiterhin mit einer gewissen Aggressivität in den Ring steigen wird müssen, um seine Ziele zu erreichen. Mit seiner Schlagkraft und Explosivität könnte er in den nächsten Jahren noch für eine Menge Wirbel in der deutschen Szene sorgen.
Etwas unglücklich lief es zuletzt auch für Mohamed Soltby. Der Hamburger verlor in England vorzeitig gegen Top-Talent Nathan Gorman. Boxerische und athletische Fähigkeiten bringt der 26-jährige aber zu genüge mit, um nach vernünftigem Wiederaufbau zurück in die Spur zu finden. Ohne Frage gäbe es für ihn hierzulande einige spannende Kämpfe.
Zum Beispiel gegen den Frankfurter Ali Kiydin. Dieser ging nach guter Amateurlaufbahn mit fünf aufeinander folgenden KO-Siegen an den Start. Mit seinem offensiven Stil bring Kiydin viel mit, um das deutsche Schwergewicht auf links zu drehen.
Außerdem wäre da noch Granit Shala aus Bayern. Dieser macht mit knapp 140 kg Kampfgewicht dem Amerikaner „Big Baby“ Miller ernsthafte Konkurrenz. Unterschätzen sollte man den mehrfachen deutschen Juniorenmeister deshalb aber nicht, auch wenn einige Pfunde weniger doch ratsam wären.
In Deutschland aktive Schwergewichtler aus dem Ausland
Ein bisschen aus dem Nichts stieg der 22-jährige Petar Milas empor. Letzten Monat erst bezwang er den erfahrenen Kevin Johson (als erst zweiter Boxer überhaupt) vorzeitig. Nun schickt sich der von Alexander Petkovic promotete Mann an, Stallkollege Francesco Pianeta in Rente zu schicken. Sollte dies dem technischen gut ausgebildeten und schlagstarken Mann gelingen, stehen ihm viele Türen offen.
Türen, die Milas Landsmann Agron Smakici ebenfalls so schnell wie möglich betreten will. Der in der Rechtauslage boxende Modellathlet hat alleine aufgrund seiner physischen Beschaffenheit das Potenzial für eine erfolgreiche Laufbahn. Sollte auch der technische Feinschliff erfolgen, ist das Ende nach oben hin offen.
Etwas unterschätzt bzw. übersehen wird aktuell noch der Türke Ali Eren Demirezen. Der Stallkollege von Smakici (beide sind bei EC Boxpromotion von Erol Ceylan angestellt) vertrat sein Land bei den Olympischen Spielen 2016 und stieg danach sofort ins Profigeschäft ein. Hätte der Kampf gegen Michael Wallisch stattgefunden, stünde der druckvoll agierende Boxer vielleicht jetzt schon näher im Zentrum des Interesses.
Talente aus dem Amateurbereich
Die größten Hoffnungen werden wohl aktuell in den Deutsch-Ghanaer Peter Kadiru gelegt. Bei den Junioren wurde er Olympiasieger und zwei Mal in Folge Europameister, später folgte die deutsche Meisterschaft bei den Herren. Kadirus Ziel wird die Olympiade in Tokio sein – danach würden sich dem körperlich starken Hamburger mit Sicherheit viele Optionen hinsichtlich einer Profikarriere ergeben.
Diesen Olympia-Startplatz wird ihm Max Keller versuchen streitig zu machen. Der Amateurboxer mit abgeschlossenem Psychologie-Studium konnte bisher international noch nicht für Furore sorgen, alleine mit seiner enormen Physis bringt er aber schon einiges mit, was er als Profi in die Waagschale werfen könnte.
Noch etwas weiter hinter den zwei Männern steht der 19-jährige Nelvie Tiafack. Der zweifache Deutsche Juniorenmeister boxt erst seit ein paar Jahren, konnte in der Kürze der Zeit neben den bereits erwähnten Erfolgen auch schon Bronze bei einer Junioren-WM mit nach Hause nehmen. Dies lässt auf ein großes Entwicklungspotenzial schließen. In der Bundesliga war Tiafack bereits ein Erfolgsgarant für den Nordhäuser SV.
Im Auge behalten sollten man auch die Malsam-Brüder Daniel und Niko. Die beiden stammen wie der oben erwähnte Granit Shala vom Boxclub Bavaria Landshut und gelten als große Talente.
Am Mittwoch geht es weiter mit Teil 5. Dann kümmern wie uns um die Exoten und all die anderen Talente, die in der Welt des Schwergewichts rumlaufen.